Das Haus der bunten Bücher: Ich bin verstört! || Janne Teller: Nichts

Ich bin verstört! || Janne Teller: Nichts

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Lesezeit: ca. 2 Minuten
Liebe Hausgäst*innen,

Schullektüren sind immer so eine Sache: Manchmal sind es tatsächlich richtig gute Bücher und oft ist das Lesen pure Zeitverschwendung. Zu Letzterem gehört "Nichts". Dieses Buch hat mich nachhaltig beeindruckt – auf die negative Art. Warum, das erfahrt ihr in dieser Rezension.

Nichts Janne Teller Rezension Das Haus der bunten Bücher


Es ist ein gewöhnlicher erster Schultag in einer siebten Klasse, der Lehrer macht seine üblichen Lehrerjokes und die Motivation ist nicht gerade auf dem Höhepunkt. Dann steht Pierre-Anthon plötzlich auf und verlässt mit diesen Worten das Klassenzimmer:
Nichts bedeutet irgendwas. Das weiß ich schon lange. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun. Das habe ich gerade herausgefunden.
(Seite 9)
Der 14-jährige Philosoph sitzt von nun an täglich in einem Pflaumenbaum, bewirft seine Mitschüler*innen mit Pflaumen und schreit ihnen nihilistische Parolen zu. Seine Gedanken sind näher betrachtet gar nicht uninteressant.
Alles ist egal. Denn alles fängt nur an, um aufzuhören. In demselben Moment, in dem ihr geboren werdet, fangt ihr an zu sterben. Und so ist es mit allem.
(Seite 11)
Seine Mitschüler*innen ärgern sich über Pierre-Anthon und beschließen, den Jungen vom Baum herunterzuholen. Sie wollen ihm zeigen, dass er Unrecht hat und es sehr wohl Bedeutsames gibt. So beginnen sie, Dinge mit Bedeutung zu sammeln. Die Kinder gehen von Haus zu Haus und tragen im alten Sägewerk einen kleinen Berg der Bedeutung zusammen. Dann merken sie jedoch, dass diese Dinge fremder Menschen für sie selbst vollkommen bedeutungslos sind.

Die Klasse drängt Dennis seine geliebten "Dungeons & Dragons"-Bücher auf den Berg zu legen. Davon gar nicht begeistert, bestimmt er, dass Sebastians Angelrute auf den Berg soll. Dieser wiederum zeigt auf Richards Fußball und Richard auf Lauras Papageienohrringe. Agnes, die Ich-Erzählerin der Geschichte, muss ihre grünen Sandalen abgeben, die sie große Überzeugungskraft kosteten. Das ist ihr zu viel – sie fordert Revanche und denkt sich etwas ganz Besonderes für Gerda aus.

Wie du mir, so ich dir!

Die Kinder schaukeln sich gegenseitig hoch. Sie sind beleidigt, dass sie ihr Lieblingsding abgeben mussten und denken sich deswegen für die anderen noch fiesere Aufgaben aus. Selbst, als es um die "Unschuld" eines Mädchens geht und um den Finger eines Jungens: Die Klasse geht immer weiter und lässt die Suche nach der Bedeutung eskalieren.

"Nichts" wird oft mit "Die Welle" (Morton Rhue) und "Herr der Fliegen" (William Golding) gleichgestellt, was ich jedoch nicht verstehe. Die Ausgangssituation von "Nichts" ist komplett unrealistisch. "Die Welle" behandelt ein Sozialexperiment in der Schule, das aus dem Ruder läuft. "Herr der Fliegen" erzählt die Geschichte einer Gruppe (vor-)pubertärer Jungs, die durch einen Flugzeugabsturz auf einer einsamen Insel festsitzen und beginnnen, sich nach kleineren Streits zu bekriegen. Zwei Szenarien, die so auf jeden Fall passieren könnten.

Würde ein*e Schüler*in plötzlich den Unterricht verlassen, sich auf einen Baum setzen und schwadronieren, nichts hätte eine Bedeutung – wären sofort Lehrkräfte, Psycholog*innen und lauter Erwachsene zur Stelle, die das Kind vom Baum herunter holen. Gut, vielleicht wäre die Situation im Erscheinungsjahr 2000 noch ein klein wenig anders gewesen, aber, dass sich kein Mensch für Pierre-Anthon interessiert? Kann gar nicht sein!

Mit kindlicher Naivität

Es gibt allerdings auch eine Sache, die mich beeindruckte: Wie unreflektiert können Kinder sein? Ihr seid mindestens 13 Jahre alt, wieso hinterfragt ihr nichts? Wieso versucht denn niemand, die Notbremse zu ziehen? Jan-Johans Finger ist voller Bedeutung, also muss er abgeschnitten werden. Jaa, hmm, schon irgendwie schade, aber da kann man nichts machen. Passiert halt ... Ähm, hallo?

Janne Teller sieht ihre Geschichte als modernes Märchen mit seiner eigenen Logik, das uns Einsichten in unsere eigene Wirklichkeit vermitteln kann ("Zeit" Interview mit Janne Teller 🡥). Generell bin ich auch dabei, wenn es gilt, durch fiktive Geschichten Augen zu öffnen. Aber wenn ich beim Lesen nur daran denken muss, wie absurd das Ganze ist, dann ist das Thema vielleicht korrekt gewählt, aber die Umsetzung missglückt.

Immerhin wurde die Geschichte im Sprachstil einer Siebtklässlerin erzählt, sodass eine gewisse Authentizität bleibt.



Romane, Krimis, Thriller sind zur Unterhaltung da. Bücher wie "Die Welle" oder "Herr der Fliegen" sollen die Augen öffnen und zeigen, wie stark sich Gruppendynamik auswirken kann. Und "Nichts"? Unterhält nicht und gibt höchstens auf den Weg, dass die Suche nach der Bedeutung und dem Sinn des Lebens nicht ganz einfach und für alle unterschiedlich ist. Ansonsten lässt es mich nur verstört und enttäuscht zurück. Liebe Lehrkräfte, tut euren Schüler*innen den Gefallen und nehmt eine andere Schullektüre. Wie wär's zum Beispiel mit "Spinster Girls" 🡥 von Holly Bourne?

Kennt ihr gute Schullektüren?



Nichts Janne Teller Rezension Fazit Das Haus der bunten Bücher


"Nichts" von Janne Teller // Aus dem Dänischen von Sigrid Engeler // 144 Seiten // Taschenbuch // Preis: 7,95 € // dtv ↗ // ISBN: 978-3-423-62517-3 // Erschienen: 2000

2 Kommentare:

  1. Heya, dazu muss ich sagen, dass es aus literarischer Sichtweise vollkommen irrelevant ist, ob etwas "so hätte passieren können". Von "Herr der Fliegen" gibt es auch keinen Beweis, ob das Geschehene realistisch ist oder nicht. Es erfordert bloß ein bisschen weniger suspense of disbelief, das Geschehene zu verarbeiten.

    Ich hab "Nichts" bisher auch nur als Schultheaterstück gesehen, aber von dem was ich weiß, geht es eben einfach nicht darum ob die Lehrer verantwortungsvoll eingreifen oder nicht, sondern eben darum, dass man eigentlich schon von Anfang im Leben (und nicht erst als Erwachsener) vor sehr harte Fragen gestellt wird, wenn es drum geht, wie man seinem eigenen Leben Bedeutung gibt. Und nihilistische Idioten im Klassenzimmer, die alles schlechtreden was man macht, weil es einem selber was bedeutet, gibt es im echten Leben auch, wenn auch nicht auf Bäumen sitzend.

    vielleicht nicht so sehr an katholischen Mädchengymnasien :P (bitte nicht als Vorwurf nehmen)

    Und im echten Leben gibt es durchaus Schulhofsituationen, wo vielleicht hinterher die Lehrer irgendwas machen, aber wo während es passiert niemand eingreifen kann.

    Was in einer Geschichte relevant ist, entscheidet die jeweilige Geschichte selbst. Und um eine Geschichte wirksam erzählen zu können, MÜSSEN unglaubwürdige Ereignisketten konstruiert werden. Meine liebste Schullektüre war Homo Faber, wo ein älterer Ingenieur eine Beziehung mit einer jüngeren Frau anfängt, die sich dann als seine eigene Tochter herausstellt. Wie wahrscheinlich ist das denn? Trotzdem erforscht der Roman viele interessante Themen in kurzer Zeit, weil die Dinge durch den Autor dadurch beschleunigt werden, dass alles auf einmal passiert und die Dinge, die nicht zur Thematik/Fragestellung gehören, ausgeklammert werden.

    wenn man dem Buch was vorwerfen sollte, ist, dass die meisten Schüler es höchstens zur Hälfte verstehen und es nicht gerade zugänglich ist, ohne dass ein Lehrer es einem Schritt für Schritt durchgeht. Habt ihr es schon im Unterricht durchgenommen? Da kommt das nämlich noch :-)

    liebe Grüße,
    Mulan

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  2. Liebe Mulan,

    vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar.

    Das mit dem "Geschichten müssen nicht realistisch sein" entgegnete mir meine Deutschlehrerin auch. Und es stimmt ja auch: Sämtliche Fantasyromane, Science-Fiction, sogar Liebesromane wären überflüssig. Die Besprechung der Schullektüre belief sich übrigens auf 90 Minuten und war nicht sonderlich ereignisreich. Aber ich glaube, ich habe einfach ein sehr positives, hinterfragendes, reflektierendes Menschenbild, was angesichts dieses Buches vielleicht nicht realistisch ist.


    Ich kann mir vorstellen, dass ein Theaterstück eine ganz andere und vielleicht sogar eindrucksvollere Wirkung hat.

    Meine Rezensionen spiegeln meistens den frischen Leseeindruck wider. Deshalb kann es sein, dass sclecht bewertete Bücher mir schon nach drei, vier Wochen besser gefallen. Oder aber auch, dass mir an zunächst genialen Büchern nach und nach mehr Kritikpunkte einfallen. Ich muss gestehen, dass, je mehr ich die Story sacken lasse, hier und da ein Interview mit Janne Teller bzw. Kritiken dieses Buches lese, die Geschichte besser wird. Oder logischer. Oder sinnvoller.

    Bezugnehmend "Homo Faber": Ich meine, am Rande mitbekommen zu haben, dass so eine Thematik gar nicht so unrealistisch sein kann. Ungelenk formuliert spüren anscheinend die Körper die Verwandschaft und somit die familiäre Anziehungskraft, dass die Menschen das Gefühl mit Verliebtheit interpretieren. Diese Thematik wird auch bei der äußerst anspruchsvollen und lebensnahen Filmreihe "Kreuzfahrt ins Glück" aufgegriffen, wo sich Vater und Tochter ineinander verlieben, als sie noch von ihrem Verwandschaftsgrad wissen.

    Viele Grüße
    Mila

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